Nicht gut genug?
Kai Hornung 15.09.2023 - vor 1 Jahr
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„Du brauchst eine konsistente Sammlung von Arbeiten. Platziere nur die allerbesten deiner Bilder in deinem Portfolio." Diesen oder ähnliche Ratschläge hörst Du in der Welt der Kunst und Fotografie immer wieder. Dieser Ansatz kann zweifellos hilfreich sein, um sich als "ernsthafter" Künstler zu präsentieren, insbesondere wenn dein Ziel ist, dich in einem speziellen Markt als verkaufender Künstler zu etablieren.
Aber seien wir ehrlich: Wahrscheinlich haben 99% der Leser dieses Blogs einen anderen Fokus in der Fotografie und finden ihre Freude daran, zu fotografieren und später ihre Bilder anzusehen.
So sehr ich auch glaube, dass es hilfreich ist, nur die besten Bilder im eigenen Portfolio aufzunehmen (und ich mich auch meistens, naja, oft daran halte), glaube ich genauso fest daran, dass diese "anderen" Bilder mehr Aufmerksamkeit verdienen.
Ich teile das Schicksal der meisten Leser: Ich wünsche mir mehr Zeit zum Fotografieren. Und ich wünsche mir auch mehr Zeit, meine vielen Bilder zu entwickeln und zu zeigen. Da Zeit jedoch begrenzt ist, müssen wir Prioritäten setzen und auswählen. Eigentlich schade, wenn dabei Bilder aussortiert werden, die mir zwar gefallen, aber nicht als "portfoliofähig" beurteilt werden und möglicherweise nicht ganz meiner üblichen Bildsprache entsprechen, oder für das stehen, was ich normalerweise gerne zum Ausdruck bringe.
Nun, vielleicht sollte man einfach keinen weiteren Gedanken und damit Zeit für dieses Thema verschwenden. Schnell die mittelguten Bilder löschen. Diesen Blogbeitrag beenden und sich wieder dem Wesentlichen zuwenden. Denn je zielgerichteter und ‚besser‘ ich arbeite, desto mehr werde ich als Künstler anerkannt, oder? Nun, so einfach ist es nicht.
Ich glaube daran, dass Du beim kreativ sein Dinge ausprobieren musst. Dass Neugierde von grundlegender Bedeutung ist. Und ehrlich gesagt, schätze und liebe ich das am kreativen Prozess besonders. Wir haben alle als Kinder mit kindlicher Neugierde angefangen, schließlich haben wir alle gelernt, wie man läuft. Leider ging im Laufe der Zeit ein Stück dieser Neugierde verloren, als uns im Kindergarten beigebracht wurde, dass es nur richtig ist, Farbe innerhalb der Linien aufzutragen, und später in der Schule, dass man nicht träumen soll. Aber das ist ein Thema für einen anderen Beitrag.
Wie schön ist es, dass wir beim Fotografieren neugierig sein und Dinge ausprobieren können. Um mit anhaltender Freude kreativ zu sein, gehört die Bereitschaft dazu, auch Misserfolge zu akzeptieren. Diese machen zwar nicht so viel Freude, aber das Hinfallen hat uns als Winzlinge auch nicht daran gehindert, immer wieder das Laufen zu versuchen.
Deshalb ist es auch verständlich, dass eine Sammlung von Bildern und Werken aus vielen Teilen besteht. Dass Vielfalt eine Bereicherung darstellt. Ja, es ist was dran: Eine Sammlung von Arbeiten ist nur so stark wie ihre schwächsten Teile. Doch die Wirkung ihrer Teile kann sich unterscheiden. Einige Teile können dabei als Übergangselemente oder verbindende Stücke dienen. Zeigen wir diese Elemente oder verstecken wir sie? Das ist eine Frage, auf die ich lange selbst auch nicht immer eine klare Antwort fand.
Einerseits möchte ich, dass meine Bilder ausdrucksstark sind und eine Botschaft transportieren, die sowohl über mich als auch über das Motiv etwas aussagt. Andererseits schätze ich die Tatsache, dass ein Künstler sich vielfältig ausdrückt. Dass die Betrachtenden ein Gefühl für die Entwicklung und die Vielfalt des Künstlers bekommen.
Ich besuche gerne Retrospektiven in Museen, bei denen umfassende Werke eines Künstlers ausgestellt werden. Wenn sogar Skripte, Briefe und Skizzenbücher zugänglich sind. Das finde ich immer unglaublich interessant und inspirierend. Ich muss nicht jedes einzelne Ausstellungsstück mögen, an manchen gehe ich vielleicht sogar zügig und eher gleichgültig vorbei, aber es bringt mich trotzdem näher an den Künstler heran. Und das führt zu einer starken Wertschätzung für das Gesamtwerk.
Zugegeben, der Vergleich bedeutender Künstler mit unserer Fotografie ist dezent verwegen. Aber er unterstreicht meine Aussage: Es verbindet. Deine Bilder und das, was du mit deiner Kamera einfängst, machen dich aus. Sie zeigen deine Vielfalt und können deshalb nicht falsch sein!
Was also tun mit diesen übrig gebliebenen Bildern? Den B- oder sogar C-Seiten? Das Einfachste ist, sie auf der Festplatte zu belassen. Aber wie ich gerne mit einer Musik-Analogie sage: Ich habe es schon immer genossen, die B-Seiten, die Raritäten meiner Lieblingsbands zu hören. "Hard to Imagine" von Pearl Jam? Nicht auf einem Album (für die Musiknerds: Ich zähle die B-Seiten-Sammlung "Lost Dogs" nicht als reguläres Album), aber definitiv ein Favorit von mir. Genauso "Last Flowers" von Radiohead und "Play" von The Cure. Die Liste könnte endlos weitergehen. Und als Fan schätze ich es, dass diese Songs verfügbar gemacht wurden. Vielleicht sogar noch mehr, weil sie vor dem Gelegenheitshörer versteckt sind. So bleiben sie eine Rarität, die ich entdecken kann, um den Fan in mir zu erfreuen.
Wusstest du, dass die Musik-Meilensteine "Ruby Tuesday" von den Rolling Stones und "Rock Around the Clock" von Bill Haley B-Seiten waren? Schwer zu glauben, denn beide Songs sind jetzt zeitlose Klassiker. Dies zeigt eine weitere Facette: Manchmal können selbst Künstler oder ihre Managementteams nicht immer beurteilen, was erfolgreich sein könnte oder nicht.
Vielleicht ergibt es also Sinn, deine Herangehensweise an die Auswahl deiner Bilder zu überdenken und ein wenig entspannter zu sein. Nicht so streng mit diesen "Übriggebliebenen" und "B-Seiten" zu sein und ihnen die Möglichkeit zu geben, ins Rampenlicht zu treten. Ihnen eine Bühne zu geben, um als verbindende Elemente zu dienen. Ganz egal, wo du diese Bühne siehst (sei es auf Facebook, Instagram, Flickr oder auf deiner eigenen Website). Und warum auch nicht? Tue, was sich richtig anfühlt. Selbst wenn das bedeutet, dass eine B-Seite eine größere Bühne bekommt, während die andere der Welt verborgen bleibt.